Als 1915 in Detroit, USA, das erste Stoppschild bzw.1920 die erste Ampel aufgestellt wurde, bedeutete dies das Ende des Begegnungszone. Spätestens von diesem Zeitpunkt an, wenn nicht schon früher, als der Bürgersteig in die Straßenraumgestaltung eingeführt wurde, begann die Segregation der Verkehrsteilnehmenden.
Durch die Stoppschilder und Ampeln regelten diese den Verkehr nicht mehr selbst, durch Blickkontakt und Gesten, sondern wurden fremdgesteuert und kanalisiert. Bereits 1906 publizierte Eugène Hénard1 Überlegungen zur Gestaltung der Straßen, die eine horizontale Trennung in Fahrspuren bzw. eine vertikale Trennung in Verkehrsetagen vorsah. Im 1927 herausgegebenen Lehrbuch „Deutsches Verkehrshandbuch“ wurde die Entflechtung des FußgängerInnen- und Autoverkehrs empfohlen. Aufgrund des höheren Geschwindigkeitsunterschiedes zwischen FußgängerInnen und Kfz wurde der Straßenraum unter den einzelnen Verkehrsteilnehmenden territorialisiert, mit der Absicht, die Sicherheit im Straßenverkehr zu erhöhen.
Im Zuge des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Ideen der „autogerechten Stadt“, teilweise basierend auf der schon 1943 publizierten „Charta von Athen“2, die unter anderem auch die strikte Trennung von (Auto-)Verkehr und öffentlichen Plätzen forderte, realisiert. Dies wurde von der guten wirtschaftlichen Situation und der damit einhergehenden Zunahme des Autoverkehrs unterstützt. Zahlreiche Fußgängerunterführungen und Straßenbahnuntertunnelungen wurden gebaut und trennten nun die Verkehrsteilnehmenden auch in der dritten Dimension.
Anfang der 1950er-Jahre entstanden in den Niederlanden (1953 in Rotterdam), in Deutschland (1953 in Kassel) und in Österreich (1961 in Klagenfurt) die ersten Fußgängerzonen, die auf den ersten Blick als Gegenbewegung zu deuten sind, aber in Wahrheit zu einer weiteren Territorialisierung nach Geschwindigkeiten des Verkehrs beigetragen haben. Dies wurde aufgrund der großen Anzahl an tödlichen Unfällen zwischen AutofahrerInnen und FußgängerInnen auch gefordert.
Ende der 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre begann ein erstes Umdenken, den Straßenraum wieder für alle Verkehrsteilnehmenden als eine gemeinschaftliche Fläche definieren und gestalten zu wollen. Der niederländische Verkehrsingenieur Joost Váhl startete in Delft 1972 das Pilotprojekt eines „woonerf“ (wörtlich übersetzt als „Wohnhof“), dem Vorläufer für die „Wohnstraße“ (Österreich) oder die „Home Zones“ (UK), die in den 1990er-Jahren errichtet wurden. Als der Verkehrsingenieur Hans Monderman 1978 zum Straßensicherheitsleiter der niederländischen Provinz Friesland berufen wurde, suchte er vor dem Hintergrund von Bürgerprotesten der stetig steigenden Zahl von Verkehrstoten vor allem bei Kindern nach neuen Lösungen, um diese Zahl wieder zu reduzieren. Da er von den gängigen Lösungen der Verkehrsberuhigung wie Bodenwellen oder Straßeneinengungen nicht überzeugt war bzw. diese nur eine Geschwindigkeitsreduktion von rund 10 % erreichten, experimentierte er im Dorf Oudehaske mit eher gegenteiligen Mitteln. Er ließ Fahrbahnmarkierungen, Bordsteinkanten, Verkehrszeichen und Bodenwellen rückbauen, um ein rücksichtsvolles Miteinander anstatt eines kanalisierten Nebeneinanders zu ermöglichen, und erreichte damit eine Geschwindigkeitsreduktion von 40 %. Damit einhergehend verringerten sich auch die Anzahl und Schwere der Unfälle. Das Ziel, den Geschwindigkeitsunterschied zwischen Kfz und FußgängerInnen wieder zu verringern, war erreicht.
In den 1980er- und 1990er-Jahren folgten mehrere Projekte in kleineren Dörfern (1992 wurden z. B. im Dorf Makkinga alle Verkehrszeichen und Ampeln abmontiert sowie Fahrbahnmarkierungen und Bordsteine entfernt), die so erfolgreich waren, dass man sich schon in den 1990er-Jahren auch an komplexere Kreuzungen und Straßenzüge mit einer durchschnittlichen täglichen Verkehrsstärke (DTV) von über 12.000 Kfz pro Tag wagte. 2002 wurde die 800 m lange Haupteinkaufsstraße von Haren bei Groningen nach den oben beschriebenen Prinzipien gestaltet. Der britische Architekt Ben Hamilton-Baillie, der Kontakt zu Hans Monderman hatte, labelte Mondermans Straßengestaltungen als Begegnungszone / Shared Space. Haren wird in der Literatur meistens als erste Begegnungszone/ Shared Space gelistet.
Das 2007 gestartete Interreg IIIB Programm „North Sea“ ermöglichte umfassende Studien zum Thema Begegnungszone sowie die Durchführung von Pilotprojekten in England, den Niederlanden, Norddeutschland, Belgien und Dänemark. Ähnliche Ansätze wurden in verschiedenen Ländern etwa zeitgleich diskutiert. Für die frankophonen Länder Frankreich, Belgien, Schweiz und Kanada war hier der französische Verkehrsplaner Michel Deronzier mit seinem schon in den 1980er-Jahren realisierten Projekt in Chambery wegweisend. Er führte die „Aire Pietonne“ ein, das ist ein großflächiger Bereich, auf dem FußgängerInnen Vortritt haben. Der wesentliche Unterschied war, dass er diese Zonen nicht in Wohnvierteln, sondern in belebten Geschäftsstraßen einführte. Ein informelles Netzwerk innovativer Verkehrsplaner, das heutige „Reseau Rue“3, forcierte den Austausch und damit Weiterentwicklung in frankophonen Ländern. Für die englischsprachigen Länder war der Australier David Engwicht mit seinem 1989 begonnenen Projekt in Brisbane der Innovator. Er beeinflusste die Entwicklung in Neuseeland und den USA. In der Schweiz kam Fritz Kobi, der Leiter des Tiefbauamtes des Kantons Bern, Anfang der 1980er-Jahre zu ähnlichen Erkenntnissen und präsentierte Mitte der 1990er-Jahre in Berlin beim Verein Deutscher Ingenieure (VDI) seine Ideen, die er unter dem Titel „Berner Modell“ zusammenfasste. Ausgehend von den Erfahrungen bei den Wohnstraßen wurden auch bei den Kantonsstraßen partizipative Planungsprozesse eingeführt.
Ein Vorläuferprojekt war die Bernstrasse in Zollikofen. Das Berner Modell ist eine Vorgehens- und Planungsphilosophie und beruht auf drei verkehrspolitischen Grundsätzen: die Vermeidung von Verkehr, die Verlagerung auf den öffentlichen Verkehr und die verträgliche Abwicklung des Verkehrs. Es definiert eine Grundphilosophie, bei der Koexistenz aller Verkehrssteilnehmenden wichtiger ist als die Dominanz einer Gruppe von ihnen, und erlaubt die Bewältigung von Verkehrsfrequenzen von über 20.000 Fahrzeugen pro Tag.
Wesentlich dabei ist vor allem der im Modell verankerte partizipative Planungsprozess unter Mitwirkung der Bevölkerung, bei dem sich das Rollenverständnis der Planenden weg von den „ExpertInnen“ hin zu den ModeratorInnen, PartnerInnen oder KollegInnen entwickelt.
Die Wirkungsanalyse der realisierten Projekte fließt als Erfahrungsschatz in die neuen Projekte ein. 2009 wurde in Österreich das erste Shared-Space-Projekt in Gleinstätten für den Verkehr freigegeben, 2010 folgte das Koexistenzzonen-/Mischzonen-Projekt in Thalgau. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass diese Projektinitiativen vor allem von Kleinstädten und Dörfern ausgingen, und erst in den vergangenen Jahren wurden auch Projekte in Metropolen wie London (Shared Space Exhibition Road) oder Großstädten wie Frankfurt realisiert.
Derzeit sind allein in Österreich zahlreiche Gemeinschaftsstraßen in Planung. Ein weitere Begegnungszone in Graz wurde 2012 fertiggestellt. In manchen Fällen bietet die Errichtung einer Gemeinschaftsstraße sogar die Möglichkeit, eine Umfahrungsstraße zu vermeiden, da durch die Reduktion der Geschwindigkeit und die fuß- und radverkehrsfreundliche Gestaltung des Straßenraumes der Verkehr nicht mehr als Belastung empfunden wird. Dies wird durch die Betonung der positiven Aspekte des Verkehrs erreicht.
Gemeinden mit einer starken Verkehrsbelastung oder mit einer hohen Unfallrate überlegen, ein Shared-Space-Konzept in ihrer Gemeinde zu realisieren. Dieser Leitfaden beschreibt die grundsätzlichen Eigenschaften von Share-Space-Konzepten. Referenzbeispiele zeigen, für welche Situationen Shared-Space-Konzepte sinnvoll wären. Shared-Space-Konzepte sind jedoch kein Allheilmittel für Verkehrsprobleme und nicht immer ein gelungener Versuch, ein Ortszentrum zu beleben. Im Kapitel 01.07 auf Seite 22 gibt daher eine Checkliste für Anwendungs- und Ausschlusskriterien die Möglichkeit einer ersten Einschätzung, ob ein Shared-Space-Konzept für eine Gemeinde geeignet scheint oder nicht. Im Zuge der Planung, idealerweise durch ein Team aus einem/einer VerkehrsplanerIn (Modellrechnungen und technische Anforderungen) sowie einem/einer Architekten/Architektin (Gesamtgestaltungskonzept), werden, idealerweise im Rahmen eines partizipativen Planungsprozesses, für die betreffende Gemeinde maßgeschneiderte Maßnahmen erarbeitet, die speziell auf die örtlichen Gegebenheiten und Bedürfnisse eingehen.
1: Eugène Hénard behandelte in seiner Veröffentlichung „Etudes sur les transformations de Paris“ (Studien zur Umgestaltung von Paris) Ideen für die Gestaltung des Straßenraumes in Paris. Er entwickelte eine kreisverkehrsähnliche Maßnahme zur Bewältigung des Verkehrsaufkommens auf großen Kreuzungen. Weiters schlug er die Verlegung des Verkehrs in unterirdische Tunnel vor.
2: Die „Charta von Athen“ wurde 1943 von Le Corbusier publiziert und dokumentiert die Ergebnisse des CIAM Kongresses, der 1933 stattfand. 1962 wurde die Charta von Athen auf Deutsch publiziert.
3: Quelle: http://www.petrakellystiftung.de/nc/programm/themen/ select_category/10.html, 18.08.2012
Quelle:
01: Hénard, Eugène (1906): Etudes sur les transformations de Paris, S. 147.
02: Hénard, Eugène (1906): Etudes sur les transformations de Paris, S. 243.
03: Gavrilovich, Peter (2000): Detroit Almanac, Detroit Free Press, S. 195.
04: Gavrilovich, Peter (2000): Detroit Almanac, Detroit Free Press, S. 197.
05: http://www.buergerimstaat.de/3_02/bilder/auto.jpg, 05.03.2012.
06: http://www.geschichteinchronologie.ch/2wk/b/1943-06-bis-1945-04-17-Duesseldorf-uebergabed/018-Irv083-Duesseldorf-1960er-j-Phoenix-Rheinrohr-AG-verwaltungshochhaus.jpg, 05.03.2012.
07: http://www.haunhorst.eu/content/161/, 05.03.2012.
08: http://www.courtyardhousing.org/images_shared.html, 12.03.2012.
09: www.fussverkehr.ch/fileadmin/redaktion/.../bulletin_2008_4.pdf, 12.03.2012.
10: http://www.vauban.de/rundgang/fotos/09130120.jpg; 10.11.2011, 12.03.2012.
11: http://www.bsla.ch/de/cuntradas/detail.php?ID_address=261, 12.03.2012.
12: http://www.geo.de/GEO/kultur/gesellschaft/66454.html?t=img&p=1, 12.03.2012.
13: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/a/ac/Centrumharen.jpg/220px-Centrumharen.jpg, 05.06.2012.
14: http://www.tyrens.se/en/Projects/Infrastructure--/Shared-Space/, 05.06.2012.
15: http://www.guardian.co.uk/artanddesign/2012/jan/29/exhibition-road-rowan-moore-review, 05.06.2012.
2012 zum ersten Mal publiziert von Ursula Faix und Paul Burgstaller in: SHARED-SPACE-KONZEPTE in Österreich, der Schweiz und Deutschland, herausgegeben vom Salzburger Institut für Raumordnung & Wohnen (SIR)
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