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„Schnell mal die Stadt retten“




Neue Bauprojekte wirken oft zu hoch, zu dicht, zu nahe und fügen sich nicht harmonisch in die umliegende Bebauungsstruktur ein. Als Architekt und Stadtplaner stell ich mir immer häufiger die Frage, wie ich eine ausgewogene Verbindung zwischen profitorientierten Bauprojekten und einem verantwortungsvollen Umgang mit unserer Umwelt schaffen kann. Muss ich ein schlechtes Gewissen haben, neue Projekte zu planen angesichts der drängenden Probleme wie Klimakrise, Zersiedelung, Versiegelung und Extremwetterereignissen?


Die Herausforderungen, vor denen wir in der Stadtentwicklung stehen, erfordern einen Perspektivenwechsel und eine konsequente Ausrichtung auf Nachhaltigkeit. Doch was genau ist nachhaltige Stadtentwicklung? Angesichts der inflationären Verwendung des Begriffes Nachhaltigkeit, mit dem nahezu jedes Produkt beworben wird, hat sich für mich eine gewisse semantische Sättigung des Wortes eingestellt. Eine rein energetische Beurteilung, die auf Heizwärmebedarf, Energieverbrauch oder CO2-Emissionen basiert, wie sie bei Gebäuden üblich ist, erscheint mir im städtebaulichen Kontext viel zu kurz gegriffen. Eine nachhaltige Stadtentwicklung erfordert eine ganzheitliche Betrachtung, die über ökologische Aspekte hinausgeht und auch soziale und wirtschaftliche Auswirkungen berücksichtigt.


ein Architekturmodell mit einem Zubau aus Seife als Konzept
Kooperatives städtebauliches Planungsverfahren Masterplan Waterfront Radstation Wien, 150.000m²

Diese ganzheitliche Definition von Nachhaltigkeit entspricht auch dem Leitbild, das bereits im Jahr 1987 von der UN-Kommission für Umwelt und Entwicklung formuliert wurde: „Nachhaltige Entwicklung bedeutet, die Bedürfnisse der Gegenwart zu befriedigen, ohne die Möglichkeit künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.“ Basierend auf diesem allgemeinen Leitbild haben sich im Laufe der Jahrzehnte konkrete Handlungsfelder und Instrumente für eine nachhaltige Stadtentwicklung herauskristallisiert:


  • Um wirtschaftliche, ökologische, soziale und kulturelle Belange in großmaßstäblichen Planungen zu integrieren, erscheinen interdisziplinäre partizipative Prozesse mit Bürgerbeteiligung sinnvoll. Ergänzend fördert eine aktive Beteiligung der Bevölkerung sowohl die Identifikation mit dem öffentlichen Raum als auch eine Stärkung der Gemeinschaft und Nachbarschaft.

  • Grundsätzlich fördern Diversität und Heterogenität eine nachhaltige Entwicklung. Eine ausgewogene Siedlungs- und Bevölkerungsstruktur, eine Vielfalt in Eigentumsverhältnissen und Gebäudetypen oder eine ausgewogene Wirtschaftsstruktur und die Förderung alternativer Verkehrskonzepte sind nur einige Punkte, die zur Resilienz von Gemeinden beitragen.

  • Und ja, natürlich – weniger Freiflächen verbauen. Der Erhalt und Ausbau von Grün- und Freiflächen trägt dazu bei, das Mikroklima in Städten zu verbessern und die Lebensqualität zu steigern. Das zugrunde liegende städtebauliche Konzept der „Stadt der kurzen Wege“ führt zu höheren und dichteren Bebauungen. Maßnahmen wie diese vermitteln das Gefühl, dass Klimaschutz und Nachhaltigkeit zwangsläufig zu Konflikten führen. Ist es möglich, diese Konflikte zu vermeiden – oder gar das schlechte Gewissen?


Ja, durchaus. Einige Planer bedienen sich des konzeptionellen Zugangs der hedonistischen Nachhaltigkeit: Nachhaltigkeit, die inspiriert und bereichert sowie positive Erfahrungen und Genuss bieten kann. Schon allein Ästhetik und Schönheit sind nachhaltige Qualitäten. Gebäude, Plätze und öffentliche Räume die als schön und wertvoll empfunden werden, sind identitätsstiftend, werden gepflegt, genutzt und belebt.


Doch der wichtigste Faktor für die Umsetzung all dieser Maßnahmen und zur Konfliktvermeidung ist der Wertewandel. Die Transformation hin zur Nachhaltigkeit erfordert nicht nur das Engagement einzelner Akteure, sondern auch die Unterstützung der gesamten Bevölkerung. Nachhaltigkeit kann nie getrennt von dem gesellschaftlichen Bewusstsein und Verständnis betrachtet werden.


In diesem Kontext ist genau dieser Artikel vielleicht das wichtigste Instrument, um nachhaltige Stadtentwicklung voranzutreiben. Durch die Veröffentlichung und die Diskussion des Textes kann Bewusstsein und Verständnis geschaffen werden. Nur gemeinsam können wir lebenswerte und nachhaltige Gemeinden für uns und für künftige Generationen gestalten. 


Paul Burgstaller


Foto Masterplan Waterfront Radstation Wien: QNA Portrait: www.zanella-kux.com 



2023 zum ersten Mal publiziert in "PAULINER FORUM" Ausgabe 79, Oktober 2023

Herausgeber und Verleger: Paulinerverein, Paulinumweg 1, 6130 Schwaz


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